Michael Matzner, Wolfgang Tischner (Hrsg.):
Handbuch Jungen-Pädagogik. Betz Verlag, Weinheim, Basel 2008.
ISBN: 978-3-407-83163-7 , 413 Seiten
- 1. Autor_innen/ Herausgeber
Dr. Michael Matzner
Dr. phil., M.A., Diplom-Betriebswirt (FH), Lehrbeauftragter.
Arbeitsschwerpunkte: Erziehung und Bildung von Jungen, Männer- und Väterforschung, junge Menschen im Übergang Schule/ Beruf, Soziale Arbeit und Geschlecht
Prof. Dr. Wolfgang Tischner
Dr. paed., Diplom-Pädagoge, Professor für Pädagogik/Sozialpädagogik an der Fakultät Sozialwissenschaften der Georg-Simon-Ohm-Hochschule Nürnberg.
Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Pädagogik, Sozialpädagogik, Hilfen zur Erziehung, Konfrontative Pädagogik, Jungen- und Geschlechterpädagogik
In den 27 Beiträgen haben die Herausgeber namhafte Kollegen aus Wissenschaft und Praxis versammelt, etwa Doris Bischof-Köhler, Lothar Böhnisch, Uli Boldt, Heike Diefenbach, Christine Garbe, Tim Rohrmann, Ulf Preuss-Lausitz, Allan Guggenbühl, Benedikt Sturzenhecker, Ahmet Toprak, Kurt Möller oder Klaudia Schultheis.
- 2. Inhalt und Besprechung
Ausgehend von der Diskussion um die ‚Krise der Jungen‘, die ‚Jungenkatastrophe‘ und der ‚Demontage des Ansehens‘ der Männer und dem daraus abgeleiteten Handlungsbedarf möchten die Herausgeber mit dem Sammelband „Handbuch der Jungen-Pädagogik“ den derzeitigen Stand der Jungenforschung darstellen und für eine ‚jungengerechte Pädagogik‘ plädieren. Das Buch stellt für die Herausgeber einen Gegenpol zu bisherigen Veröffentlichungen dar, die vom „profeministischem Mainstream“ und der Gendertheorie dominiert werden (S.14). Ihre eigene Position bezeichnen sie hingegen als „pro-männlich“ (ebd.).
Der Band besteht aus 27 Beiträgen, die in die folgenden sechs Bereiche untergliedert wurden:
- Biologische, psychologische und soziologische Grundlagen der Jungenpädagogik
- Jungen in pädagogischen Institutionen I: Tageseinrichtungen für Kindern
- Jungen in pädagogischen Institutionen II: Schulen
- Jungen in pädagogischen Institutionen III: Sozialpädagogische Einrichtungen und Angebote
- Pädagogische Einzelfragen
- Schlussfolgerungen und Ausblick
Im ersten Bereich werden in vier Beiträgen biologische, psychologische und soziologische Grundlagen einer Jungenpädagogik dargestellt. Aus den Perspektiven der (Evolutions-)Biologie, der Hirnforschung, der (Entwicklungs-)Psychologie und der Soziologie wird geschlechtstypisches Verhalten von Jungen und Männern betrachtet, um davon ausgehend die spezifischen Bedürfnisse und Potenziale von Jungen in Schule, Kindertagesbetreuung und Sozialer Arbeit zu berücksichtigen.
Im zweiten Themenbereich werden Jungen in verschiedenen pädagogischen Kontexten behandelt. In elf Beiträgen werden Möglichkeiten, Beschränkungen, Entwicklung, Sozialverhalten und Leistungen von Jungen in Kindertageseinrichtungen, Schule und sozialpädagogischen Einrichtungen diskutiert.
Im dritten Bereich werden in zehn Beiträgen ‚Einzelfragen‘ zur Jungenpädagogik ausgebreitet, wie Jungen und Gesundheit, Sexualität, Gewalt, Erlebnispädagogik, Sport, Mediennutzung, Väterlichkeit, Geschlechterpolitik und Gender Mainstreaming. Sehr präsent ist in einigen dieser Beiträgen das Thema Bildungsbenachteiligung von Jungen.
In den abschließenden Schlussfolgerungen werden einerseits Forschungsergebnisse zusammengefasst, andererseits die vorangegangenen Beiträge auf die Entwicklung einer eigenen Jungenpädagogik hin zusammenfassend dargestellt.
Das „Handbuch Jungen-Pädagogik“ dürfte eines der bestverkauftesten Bücher zum Thema Jungen sein. Warum?
Ein Grund ist sicherlich das Ziel der Herausgeber, einen interdisziplinären Blich auf Jungen zu geben und hier insbesondere die Perspektive der Naturwissenschaften hervorheben, da sie in anderen Veröffentlichungen eine „merkwürdige und unverständliche Ignoranz hinsichtlich der Zurkenntnisnahme neuerer Forschungsergebnisse aus Soziobiologie, Gen- und Hirnforschung, Endokrinologie und Evolutionspsychologie“ wahrnehmen.
Einige der Beiträge sind sehr differenziert ausgearbeitet und werden der Komplexität des Themas durchaus gerecht. Die Perspektivenvielfalt und die unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen tragen zu einem umfassenden Blick auf Jungen-Pädagogik bei.
Leider beinhalten jedoch einige Beiträge – allen voran diejenigen der Herausgeber – fragwürdige Positionen, Bewertungen und Vorurteile, fragliche Schlussfolgerungen und Verkürzungen sowie kritisch zu bewertende, zumindest aber missverständliche Aussagen.
Besonders auffällig ist die eingenommene Perspektive auf Geschlecht. Einerseits findet eine Konstruktion von Jungen/ Männern resp. Mädchen/ Frauen als homogene Geschlechtsgruppe statt („die“ Jungen) – und das obwohl sich die Autor_innen genau davon immer wieder abgrenzen (etwa S.9). Andererseits finden sich fragwürdige Aussagen zu Geschlechterstereotypen:
„Bis zum Ende der 1960er-Jahre bestand in unserer Gesellschaft eine ausgewogene Verteilung jeweils dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht zugeschriebener Werte. In Berufswelt und Öffentlichkeit dominieren Werte wie Sachlichkeit, Rationalität, Wettbewerb, Leistung und Disziplin, welche maßgeblich zum wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands in der Nachkriegszeit beitrugen. Innerhalb der Familie dagegen gaben weiblich konnotierte Werte wie Fürsorglichkeit, Emotionalität, Individualität, Egalität und soziale Harmonie den Ton an, die für einen hohen Grad an Stabilität für jede Gesellschaft so grundlegend wichtigen Institutionen und eine hinreichende Reproduktivität sorgten. Diese Balance besteht heute nicht mehr.“ (S.10)
Wünschen sich die Matzner und Tischner hier tatsächlich die Geschlechterverhältnisse der 60er Jahre zurück? Vertreten sie tatsächlich klare geschlechterdichotome Vorstellungen und gehen von geschlechtsspezifisch völlig unterschiedlichem Handeln aus?
Ähnlich fragwürdig sind Ausführungen zur (Bildungs-)Benachteiligung von Jungen und Männern durch Frauen, etwa durch eine feminisierte pädagogische Umgebung. So wird davon gesprochen, dass „das Männliche in den letzten Jahrzehnten eine historisch bislang beispiellose Abwertung erfahren hat und erfährt“ (S.9), „Männer […] unbedacht und pauschal diffamiert“ werden (S. 9) oder „Weibliche Lehrkräfte […] zur Entwicklung einer männlichen Geschlechtsidentität unmittelbar nichts beisteuern” können (S.401). Abwertung von Weiblichkeit sei allerdings nicht das Ziel der hier vertretenen Jungen-Pädagogik: „Ziel ist es vielmehr, es Jungen durch eine entsprechende Gestaltung der pädagogischen Rahmenbedingungen zu ermöglichen, wieder zu ihren Ressourcen und Stärken zu finden und ihre Potenziale in größtmöglichem Umfang auszuschöpfen.“
Sehr passend finde ich zu diesen Ausführungen Detlef Pechs Frage, ob den „um es sehr scharf und überspitzt zu formulieren – Jungenarbeit den Bildungsverlierern Jungen die Wiederherstellung ihrer Bildungsüberlegenheit gegenüber den Mädchen ermöglichen sollte“ (Pech 2009: 71).
Weiterhin ist anzumerken, dass einerseits (trotz des interdisziplinären Anspruchs) nicht alle Perspektiven zum Thema Jungen und Geschlecht im Buch vertreten sind, (de)konstruktivistische Sichtweisen auf Geschlecht fehlen weitgehend, etwa zu Ansätzen des doing gender resp. doing masculinity. Andererseits verkürzen einige Autor_innen eben diese Ansätze auf unzulässige Art und Weise oder haben sie schlicht nicht richtig erfasst (u.a. Matzner Tischer, S.12).
Den Anspruch, den aktuellen „Wissens- und Diskussionsstand zum Themenbereich Entwicklung, Sozialisation, Bildung und Erziehung von Jungen“ (S. 381) darzustellen, kann der Band daher bei Weitem nicht einlösen.
- 3. Fazit
Das Fazit zu diesem Buch muss sehr ambivalent ausfallen, da hier fachlich fundierte und differenzierte Beiträge neben wertenden und vorurteilsbehafteten Artikeln stehen. In dem weiten Themenfeld ‚Geschlecht‘ und ‚Arbeit mit Jungen‘ gibt es vielfältige unterschiedliche und sich widersprechende theoretische Positionen und Haltungen. Sicherlich kann das Buch dazu beitragen einige davon darzustellen und eine vielseitige Perspektive auf Jungen zu bekommen – gerade auch durch Positionen, die (wissenschaftlich) sonst weniger vertreten werden. Es sollte jedoch auf jeden Fall kritisch gelesen werden und durch weitere Publikationen zum Thema ergänzt werden.
